Die Verfassung macht sicher

Ja, ich gebe es zu! Ich bin der Politiker, der die Verfassung ändern will. Wenn man der Meinung von zwei Wiener Professoren für Verfassungsrecht folgt, dann ist das etwas sehr verwerfliches. Die Verfassung sei freizuhalten von “ideologischen Duftmarken der Parteien”, so Prof. Mayer und Prof. Kopetzky unisono. Sie stehen damit in bester Tradition mit dem “Vater” unserer Verfassung, Hans Kelsen. “Österreich ist eine demokratische Republik“, heißt es im ersten Artikel und er wurde gegen Kelsens Willen geschrieben. Urteile über den Charakter der Verfassung im Verfassungsgesetz selbst befand er als überflüssig und rechtlich irrelevant. Sache des Rechts sei es, eine demokratische Republik zu sein, oder nicht zu sein. 1)

Es mag heute skurril wirken, sich dagegen auszusprechen, dass Österreich eine demokratische Republik ist, im Jahr 1920 waren aber viele der heute allgemein anerkannten Grundsätze noch lange nicht entwickelt. Eine richtige Demokratie (mit Frauenwahlrecht) gab es seit nicht einmal 2 Jahren. Eine Mehrheit der Parteien wollte Österreich gar nicht als eigenes Land führen, sondern sah unsere Zukunft als Teil Deutschlands.

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Man muss sich diese Rahmenbedingungen vor Augen führen, um zu verstehen, warum 1920 versucht wurde, alles Gesellschaftspolitische aus der Verfassung herauszuhalten. Es gab keinen Grund-konsens über die elementarsten politischen Dinge und wenig Willen zur Kompromissfindung. Übrig blieb also nur, die Spielregeln der staatlichen Organe zu definieren. Hier ist das B-VG (Bundes-Verfassungsgesetz) im Jahre 1920 tatsächlich ausgezeichnet gelungen und dient bis heute als internationales Vorbild (zuletzt z.B. für die Verfassung des Kosovo).

So sehr die Haltung zu dieser Zeit im Rückblick also verständlich wird, so seltsam scheint mir das polemische Beharren darauf im Jahr 2014. Man kann die Verfassung nämlich nicht nur als ein Buch von Regeln für staatliche Organe sehen, sondern vielmehr als Basis für den Aufbau der Gesellschaft. Als ein Gerüst von Werten, die allgemein anerkannt sind und die keine ernsthafte Partei oder Gruppierung bezweifelt. Und in Wirklichkeit ist es ja längst so: die Menschenrechtskonvention, und auch das Staatsgrundgesetz von 1867 sind Bestandteile der Verfassung und gleichzeitig zutiefst politische Themen. Und wie bei jedem politischen Thema gab es auch zur jeweiligen Zeit politische Parteien, die diese Gesetze forciert haben und andere, die dagegen ankämpften. Heute stehen sie alle außer Streit, aber hätten sie damals nicht beschlossen werden dürfen, damit keine “ideologischen Duftmarken” in die Verfassung kommen?

Nein, es geht nicht um ideologische Duftmarken!

Verfassung ist für mich auch eine inhaltliche Werte-ordnung für Staat und Gesellschaft. Spätestens seit der Übernahme der Menschenrechtskonvention in die Österreichische Verfassung (1964) und der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (2012), dass die EU-Grundrechtecharta (in Kraft seit 1.12.2009) von ihm als Norm für die Verfas-sungskonformität österreichischer Gesetze herangezogen wird, ist klar, dass der öster-reichischen Verfassung auch eine besondere Werte-ordnung zu Grunde liegt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Frage, ob die Würde des Menschen beispielsweise auch beim Sterben verletzt wird, von europäischen Richtern beurteilt wird und nicht in Österreich.

Dies deswegen, weil Österreich im Gegensatz zu Deutschland und der Europäischen Grundrechte-charta in seiner Verfassung keinen Schutz der Würde des Menschen vorsieht. Für mich ist es daher ein Gebot der Stunde, dass sich nicht nur der österreichische Verfassungsgesetzgeber, sondern noch mehr die österreichische Gesellschaft mit den Werten des Zusammenlebens auseinandersetzt. In anderen Staaten ist es selbstverständlich, dass die Gesellschaft ihre Grund- und Freiheitsrechte in der Verfassung kennt und einfordert. Wir dürfen diese Diskussion nicht nur den Juristen überlassen, welche sich immer gerne eine entpolitisierte Verfassung wünschen, weil das ihr Pouvoir stärkt.

Ich will eine Verfassung von und für die Österreicherinnen und Österreicher, welche das Zusammenleben in ihrer Werteordnung regelt. So würde ich z.B. gerne die Würde des Menschen (siehe Artikel 1 der EU-Grundrechtecharta) nicht nur über ein internationales Regelwerk, sondern auch ausdrücklich über eine explizite Bestimmung in der österreichischen Verfassung zur Anwendung gelangen lassen. Es ist daher notwendig, im Rahmen der Diskussion über ein würdevolles Sterben auch darüber zu reden, in welcher Weise die Verfassung ein würdevolles Sterben, ein würdevolles Altern, etc. schützen kann.

Auf dieser Website erwähnte Studien belegen, dass die Legalisierung der Tötung auf Verlangen in anderen Ländern zur Tötung von Menschen geführt hat, deren Zustimmung zu dieser Tötung nicht vorlag, oder nicht freiwillig erfolgte. Dieses Risiko einzugehen, verbietet mir aber mein humanistisches Weltbild, nach dem ein menschliches Leben nicht relativierbar ist.

Daher müssen wir alle Möglichkeiten, auch die des Schutzes durch die Verfassung, in dieser Diskussion heranziehen. Denn sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Grundrechte und das Zusammenleben in Österreich zu sichern. Zu dieser Diskussion lade ich alle interessierten Menschen ein!

Nachweise:

1) Quelle: Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 164